April 2022
Liebe Parteifreundinnen und Parteifreunde,
sehr geehrte Damen und Herren,
Im Bund ist die „Ampel“ nun seit gut hundert Tagen im Amt und muss gleich mehrere Krisen teilweise historischen Ausmaßes bewältigen. Vor diesem Hintergrund werbe ich um Ihr Verständnis, wenn in Berlin Entscheidungen fallen, die vielleicht auch einmal nicht wunschgemäß ausfallen. Eine Ampel ist keine FDP-Alleinregierung und Krisen führen immer auch zu Sachzwängen, die unpopuläre Entscheidungen notwendig machen.
An den Diskussionen im Bundespräsidium der FDP war ich in den letzten Wochen und Monaten stets beteiligt und kann Ihnen versichern, dass die Parteiführung immer im Blick hat, möglichst die Interessen des Gemeinwohls sowie die Interessen der FDP bei der Entscheidungsfindung abzuwägen.
Lassen Sie mich dies an zwei Beispielen erläutern:
Alle ernstzunehmenden politischen Kräfte (bis auf die AFD und Teile der Linkspartei) sind entsetzt über den Angriffskrieg des Putin-geführten-Rußland auf die Ukraine. Alle würden gerne dem ukrainischen Volk helfen und diesen Krieg baldmöglichst beenden. Leider hat die Diplomatie versagt und es wurden in der Vergangenheit eklatante außenpolitische Fehler begangen, die unser Land in die energiepolitische Abhängigkeit zu Russland gebracht haben. Die Hauptschuldige daran ist Altkanzlerin Merkel, die nun jeden Kommentar dazu verweigert und wie weiland der junge Goethe Italien bereist. Energiepolitische Weichenstellungen wirken langfristig. Man kann nicht von Heute auf Morgen auf 55 Prozent unserer Gasversorgung einfach verzichten. Man kann es vielleicht schon, aber dies würde zu einem raschen Erliegen der Metallindustrie und der Chemischen Industrie führen, mit allen Auswirkungen auf Lieferketten und auf die Gesamtwertschöpfung unserer Wirtschaft. Wozu es ausweislich des Notfallplans Gas nicht käme, das sind Einschränkungen für private Haushalte. Insofern sind Sprüche von warmen Pullovern und 15 Grad Raumtemperatur verantwortungsloses Geschwätz, das nur die Menschen verunsichert. Ebenso werden wir russische Rohstoffe nicht durch ein Tempolimit auf Autobahnen ausgleichen. Hier versuchen ein paar grüne Ideologen die Krise zu missbrauchen, um ein Herzensprojekt durchzudrücken.
Jedenfalls droht nach übereinstimmender Aussage aller Wirtschaftsforscher und Wirtschaftsverbände ohne die Hälfte unserer Gaslieferungen eine tiefe Wirtschaftskrise bis hin zur Massenarbeitslosigkeit. Man kann nicht ausschließen, dass es doch dahin kommt bzw. Putin selbst den Gashahn zudreht; aber es ist sicher verantwortungsvoll, zunächst Bemühungen einzuleiten, das russische Gas zu ersetzen. Im Übrigen wäre es naiv zu glauben, man würde heute ein Gasembargo aussprechen und morgen beendet Putin dann den Krieg. In Wahrheit bleibt all dies im Bereich der Spekulation. Die von der ukrainischen Regierung geforderte Durchsetzung einer Flugverbotszone durch die Nato würde zu einer direkten Konfrontation mit der russischen Armee führen. Diese könnte bis hin zu einem Atomkrieg hin eskalieren. Vor diesem Hintergrund ist auch die Lieferung schwerer Waffen nicht ganz ohne Risiko. Es muss eben ein Weg gefunden werden der maximalen Unterstützung der Ukraine, ohne gleichzeitig Europa in einen möglicherweise atomaren Großkonflikt zu stürzen. Dies ist ein alles andere als leichtes Unterfangen.
Ein weiteres hochumstrittenes Thema ist die Coronapolitik der Ampel. Maßgeblich auf Betreiben der FDP (ich erinnere mich an unsere letzte Regierungsbeteiligung auf Bundesebene zwischen 2009 und 2013, als der Vorwurf immer lautete, die FDP habe nichts zu melden) sind die meisten Freiheitseinschränkungen nun vor etwa zehn Tagen ausgelaufen. Zur Erinnerung: Die coronabedingten Grundrechtseinschränkungen der letzten beiden Jahre wurden stets damit gerechtfertigt, dass eine Überlastung des Gesundheitswesens zu verhindern sei, um nicht Szenen wie in Oberitalien oder dem Elsass (die sogenannte Triage) erleben zu müssen. Von einer solchen Überlastung war die Rede, nicht von Personalengpässen, die dadurch verursacht werden, dass medizinisches Personal mit einem positiven Coronatest mit leichten oder gar keinen Symptomen in Quarantäne sitzt. Immer dann, wenn diese Überlastungsgefahr drohte wurden Maßnahmen auch von der FDP mitgetragen. Der Geist unserer Verfassung und insbesondere unser liberales Verfassungsverständnisses legt aber nahe, dass nicht das Individuum begründen muss, weshalb es auf seine Rechte besteht, sondern der Staat, weshalb er Rechte einschränkt. Natürlich gibt es auch jetzt noch hohe Inzidenzen; gibt es auch jetzt noch Menschen, die an oder vor allem mit Corona versterben, was bedauerlich ist. Es kann aber nicht Aufgabe eines demokratischen Verfassungsstaates sein, jeden umfassend vor Gefahren zu schützen. Sonst müsste man das Autofahren verbieten, das Bergwandern und das Baden in Flüssen und Seen. Wenn die Begründung für Freiheitseinschränkungen entfällt, dann sind den Menschen ihre Rechte zurückzugeben. Und was ist in den letzten zehn Tagen passiert? Exponentiell explodierende Inzidenzen, wie manche Auguren ankündigten? Ein zusammenbrechendes Gesundheitswesen, wie manche Auguren ankündigten? Fehlanzeige!
Vor diesem Hintergrund war auch die Diskussion um eine Impfpflicht zu sehen. Jene, die sie vertreten haben, begründeten ihre Forderung damit, „die Pandemie dadurch beenden zu können“, „die nächste Welle im Herbst zu verhindern“, „endlich vor die Lage zu kommen“. Diese drei Verheißungen sind allesamt nachweislich falsch! Wir haben einen Impfstoff, der auf Basis der sogenannten „Wildvariante“ des Coronavirus eiligst entwickelt wurde. Die folgenden Varianten (Delta und Omikron) bildete er nicht ab. Schon gar nicht kann er eine künftige Variante des Herbstes 2022 abbilden. Wir können glücklich sein, diesen Impfstoff zu haben, weil er mit hoher Wahrscheinlichkeit vor schweren Krankheitsverläufen schützt. Deshalb werbe ich nachdrücklich für die Impfung. Was dieser Impfstoff aber ersichtlich nicht leistet, das ist ein Schutz vor Neuansteckung und vor Weitergabe des Virus. Jeder von uns kennt die Fälle von Geimpften und Geboosterten, die sich dennoch anstecken. Vulnerable Personen können trotz Boosterung auch von einem schweren Verlauf heimgesucht werden. Offenbar lässt auch der Schutz vor schweren Verläufen auf der Zeitachse nach. Man denke etwa an den Fall des baden-württembergischen Innenministers Strobl. Deshalb spricht Gesundheitsminister Lauterbach auch schon von der vierten Impfung für Vulnerable. Derselbe Lauterbach übrigens, der für eine Impfpflicht eintritt, die mit der dritten Impfung erfüllt wäre. Aus meiner Sicht ein kontraproduktiver Vorschlag. Die ersten Boosterungen gab es im Spätsommer 2021. Natürlich wäre jenen eine vierte Impfung im Herbst 2022 bei Auftreten einer neuen Variante zu empfehlen. Das völlig falsche Signal aber wäre: Du bist dreimal geimpft, hast damit die Impfpflicht erfüllt und brauchst nichts mehr zu machen.
Dies zeigt doch, dass es völlig illusionär ist, in Bezug auf eine weitere Welle im kommenden Herbst mit einer Variante des Virus, die niemand voraussagen kann, „vor die Lage zu kommen“, die „nächste Welle zu verhindern“ bzw. die „Pandemie zu beenden“. All dies geht erkennbar nicht. Man kann lediglich Einzelne vor schweren Verläufen schützen. In Wahrheit muss die Menschheit lernen, mit diesem Virus zu leben, so wie man mit dem Influenza-Virus lebt, gegen das ich beispielsweise mich seit Jahren jeden Herbst neu impfen lasse; andere haben allerdings auch das gute Recht, dies nicht zu tun. Eine Impfpflicht wäre ein tiefer Eingriff in das Grundrecht der Bürgerinnen und Bürger auf Selbstbestimmung über ihren Körper. Dieses Grundrecht kann meiner Meinung nach eingeschränkt werden, wenn dies dem Gemeinwohl dient. Mit anderen Worten: Wenn eine Impfpflicht den Nichtinfizierten vor Ansteckung durch den Infizierten schützen würde und eine solche Impfpflicht folglich die Pandemie ausrotten könnte, dann wäre ich dafür. Gerade dies leistet aber die Impfung erkennbar nicht. Sie schützt nur den Einzelnen mutmaßlich vor einem schweren Verlauf. Dies ist nicht wenig, sollte aber im Ermessen auch des Einzelnen verbleiben. Aufgabe des Staates kann es nicht sein, jeden Einzelnen individuell zu seinem gesundheitlichen Glück zu zwingen, ohne dass dies überhaupt Auswirkungen auf dessen Mitmenschen hat. Wer dies anders sieht, folglich eine Impfpflicht will, um seine Mitmenschen zu deren Glück zu zwingen, der müsste auch dafür plädieren, Dicke gesetzlich zum Abnehmen zu zwingen, den Trinkern gesetzlich den Alkohol wegzunehmen und das Rauchen generell gesetzlich verbieten. Es kann nur Aufgabe des Staates sein, Schwächere vor ihren Mitmenschen zu schützen; aber nicht jeden Einzelnen vor dessen individuellem Lebensrisiko zu bewahren.
Abgesehen davon hat bislang kein Verfechter einer Impfpflicht dargelegt, wie er diese überhaupt organisatorisch umzusetzen gedenkt. Niemand – auch das RKI nicht – weiß, wie viele Menschen in Deutschland überhaupt genau geimpft sind. Schon gar nicht ist bekannt, wer. Insofern liegt Friedrich Merz gar nicht so falsch, wenn er ein Impfregister als Voraussetzung für eine Impfpflicht fordert. Genau dies sollten wir vielleicht angehen. Wohl nicht, um später für Corona eine Impfpflicht einzuführen. Diese macht bei einem mutierenden Virus – wie dargelegt – überhaupt keinen Sinn. Aber vielleicht ist die nächste Pandemie eine Pandemie, die mit einer einzigen Impfung bezwungen werden kann, so wie das bei der Masern-Pflichtimpfung der Fall ist. Dann wären wir vorbereitet. In so einem Fall wäre auch ich für eine Impfpflicht.
Jedenfalls ist es in diesem Falle Unfug, eine Impfpflicht zu beschließen, ohne zu wissen, wen man überhaupt damit „beglücken“ muss, ohne zu sagen, wer dies wie durchsetzen soll und ohne zu sagen, wie diese Durchsetzung überhaupt sichergestellt werden kann. Es reicht eben nicht, eine Impfpflicht im Bundestag zu beschließen und sich dann auf die Schulter zu klopfen und zu tönen: Jetzt haben wir es dem Virus aber gezeigt! Ein solcher Beschluss würde ins Organisationschaos führen. Die Einzigen, die davon profitieren würden wären Querdenker und Aluhüte, die triumphieren könnten: Dieser Staat will uns zur Impfung zwingen und schafft es nicht einmal!
Im Ergebnis gibt es keinen vernünftigen Grund für eine Impfpflicht. Nur gute Gründe, für die Impfung zu werben. Insofern hat die große Mehrheit der FDP-Bundestagsfraktion in der vergangenen Woche das Richtige getan und unser Land vor einem Fiasko bewahrt. Siehe Österreich; wo eine Impfpflicht beschlossen und in kürzester Zeit wieder kassiert wurde.
Gerne diskutieren wir mit Ihnen diese und andere Themen im Rahmen unserer anstehenden Kreismitgliederversammlung am 28.04. um 19h im Brauhaus 2.0 in der Hauptstrasse 11 in Remchingen-Wilferdingen. Die Einladung ist Ihnen zugegangen, sofern Sie FDP-Mitglied sind. Ich hoffe auf Ihr zahlreiches Erscheinen.
Es grüßt Sie herzlich
Ihr Hans-Ulrich Rülke